Folgenloser Alarmismus
Was auf der Intensivstation ohne Ende nervt, ist das Gebimmel der Geräte, die bei der Über- oder Unterschreitung einer Bandbreite von akzeptablen Vitalwerten neben optischen auch unerträgliche akustische Signale geben. Einige Signale verstummen, wenn die Werte wieder in den Normalbereich zurückfinden, andere müssen aktiv zurückgesetzt werden, nachdem eine Aktion durchgeführt wurde.
Dies alles würde Sinn machen, wenn die Signale Folgen hätten. In den vergangenen 10 Wochen gab es - soweit ich anwesend war - nur eine einzige Situation, bei der ein Alarm wirklich ein entsprechendes Verhalten der Beteiligten auslöste. Das Gerät meldete bei einem Puls von 60 mit der Abkürzung "ASY" (=Asystolie) einen Herzstillstand - falsch. Ansonsten - und ungezählte Male - ist das Gebimmel einfach nur eine Zumutung. Ich empfinde den Soundtrack der Intensivstation schlicht als unnötig grausam - insbesondere dann, wenn zwei Intensivpatienten in einem Zimmer bedudelt werden, und ganz besonders dann, wenn das Gerät - wie heute immer wieder - nicht den Sauerstoffgehalt des alten und verwirrten Herrn im Nachbarbett anzeigt, sondern dessen "Fähigkeit", sich von dem Adapter mit Fotodiode an seinem Finger immer wieder zu befreien. Wir desinfizieren uns bei jedem Eintritt in das Zimmer gehorsam die Hände. Drinnen wird aber der Wahnsinn "durch die Luft übertragen". Denn Hospitalisierung ist über den akustischen Kanal als Übertragungsweg ansteckend. Ich möchte hier nicht übertreiben, aber man sollte sehen, dass selbst Musik - in Überdosen verabreicht - "Foltercharakter" haben kann.
Ich frage mich, welche Schutzmechanismen ein Mensch aufbauen muss, um rein psychisch in einer solchen Umwelt gesund zu bleiben - über 69 Tage zu je 24 Stunden ("Erholungsphasen" während Sedierung nicht abgezogen). Mir jedenfalls reichen 90 bis 180 Minuten voll und ganz. Liebe Leute der Firma Dräger: machen Sie doch den Selbstversuch! Ein Mitarbeiter oder mehrere Mitarbeiter legen sich - während der bezahlten Arbeitszeit natürlich - einfach einmal 8 Stunden in ein Bett und lassen sich den Soundtrack einer Intensivstation einspielen. Nach vier Stunden vergleichen wir ihr Leid im Bimmel-Bett mit dem Arbeitsleid. Die Mitarbeiter nennen den Stundenlohn, den wir zahlen müssen, um weitere 4 Stunden bei Gebimmel im Bett zu ertragen, anstatt in Ruhe arbeiten zu dürfen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sie angesichts der Alternative einen doppelten Stundenlohn verlangen.
Es gibt tatsächlich Menschen, die sich mit der Akustik auf Intensivstationen befassen. Dr. Giovanni Mistraletti hat auf einer Tagung der Firma Dräger über "The silent ICU" und die Wirkung von Musik in der Intensivmedizin referiert. Sehr sehenswert!
Liebe KollegInnen in den Pflegestudiengängen: Wäre dies nicht ein toller Ansatz für ein Forschungsprojekt?.
Die Akustik hat natürlich auch noch eine ganz andere Seite. Bei Personalmangel - und dies ist oft der Normalzustand in der Intensivmedizin - können die Pfleger gar nicht zeitnah auf jedes akustische Signal reagieren. Auch sie müssen einen Bewältigungsmechanismus - oder wollen wir es besser Abstumpfungsmechanismus nennen - entwickeln, um angesichts des Soundtracks des Alarmismus nicht irre zu werden.
Dank Digitalisierung können in der Intensivmedizin die Vitalwerte wie Herzfrequenz, Blutdruck und Sauerstoffsättigung (SpO2) problemlos bis 1,5 m neben das Krankenbett übertragen werden. Über die letzten Meter bis zur PflegerIn findet jedoch ein Medienbruch statt, indem die Warnung über die Akustikstrecke gesendet wird. Das ist schlicht "gaga"! Es ist nicht einzusehen, warum dies nicht mit Vibrationsalarm über das WLAN auf die Smartwatch der PflegerIn gesendet werden kann.
Angesichts der Konzentration auf die körperlichen Funktionen geht auf der Intensivstation der Rezeptor für basale Voraussetzungen von Wohlbefinden verloren. Das ist bei Kurzzeitaufenthalten vertretbar. Wem die Intensivstation in wenigen Tagen das Leben rettet, wird den Sound eine gewisse Zeit ertragen. Ich kann das grundsätzliche Problem nicht lösen, werde aber schauen, ob wir nicht die Akustik durch Einspielen von Musik wenigstens etwas verbessern können.
Die Wetterlage
Alle Vitalwerte stabil. Auf die Frage nach dem Befinden konnten wir das Wort "scheiße" eindeutig von den Lippen ablesen. Der Versuch mit Sprachkanüle zu arbeiten scheiterte wegen Atemnot. Bei Inhalation mit Atemunterstützung beruhigte sich wieder alles. Also kaum Kommunikation heute. Vorlesen beruhigt.