8,5 km
... so viel sind es zur Zeit. Ich hatte schon vor dem 16.10.2018 angefangen, regelmäßig zu laufen. Anlass war ein Firmenlauf und die eindeutige Selbstdiagnose, dass die persönliche Leistungsfähigkeit mit Mitte 50 klar abgenommen hatte. Sitzen, denken und reden, ein wenig Treppensteigen und viel zu wenig Radfahren ist keineswegs eine artgerechte Haltung für Menschen. Mir ist sie jedenfalls nicht gut bekommen. Insofern kam der Firmenlauf als letzter 'Nudge', nun endlich aus der Komfortzone, die ja langfristig gerade ihr Gegenteil ist, heraus zu kommen. 5,7 km zu laufen bedurfte tatsächlich etwas Vorbereitung - eine durchaus frustrierende Erfahrung. Daraus erwuchs der feste Vorsatz, hinter diese Untergrenze körperlicher Leistungsfähigkeit nicht wieder zurückfallen zu wollen.
Seitdem die Verfolgung der Intensivbehandlung zu einem Element meines Alltags geworden ist, hat sich das Bedürfnis dies bei zu behalten, noch deutlich verfestigt. Der Lauf ist eine Form der Selbstvergewisserung, dass mein Kreislauf noch halbwegs zuverlässig funktioniert. So ist die Strecke nun auf 8,5 km angewachsen. Das Rheinufer und das Ufer der Pegnitz sind entsprechend vermessen, sodass ich genau weiß, an welche Wegmarken ich umkehren 'darf'.
Die Laufstrecke hätte natürlich auch 'einfach so' wachsen können. Ich messe der Zeit am Morgen alle zwei Tage aber nun eine erheblich größere Bedeutung zu. Die Frage, ob ich die Frist des Finanzamts einhalten kann oder auf eine Email geantwortet habe, hat nun klar zweite Priorität. Erste Priorität hat die Laufstrecke. Es scheint so, als würde meine Psyche die Strecke des beobachteten Leids in zu laufende Meter an Flussufern umrechnen. Der Wechselkurs ist degressiv: mit jedem Tag Intensivstation wird die Laufstrecke einige wenige Meter länger, freilich verdoppelt sie sich nicht mit der Verdopplung der Tage.
Es ist sehr interessant zu spüren, bis zu welchem Punkt an Rhein und Pegnitz sich mein Körper gegen die Belastung wehrt und ab wo mein Körper etwas Euphorisierendes ausschüttet, so dass sich das Leben in der folgenden 48 Stunden deutlich komfortabler anfühlt.
Zum Laufen kommt rein zeitlich noch ein ausgiebiges Frühstück und Duschen hinterher. Ich stelle mir vor, dass mein genetisch identischer wohl auch ersf einmal am Morgen einige Kilometer laufen musste, um danach etwas zu essen zu haben.
So wird die Zeit der Fürsorge durch die Zeit der Selbstsorge verlängert. Nur so scheint es mir möglich, psychisch halbwegs gesund diese Zeit zu durchleben. Ein Nebeneffekt besteht darin, dass mich die Zeitdiebe 'Krankenhaus' und 'Flussufer' extrem zur Priorisierung zwingen. Dies wiederum hat dazu geführt, dass ich mir eingestehen und meiner Umwelt eröffnen musste, viele übernommene Verpflichtungen nicht mehr erfüllen zu können. Ich habe deshalb alle freiwilligen Addons gestrichen und mich von allen Ehrenämtern und Zusatztätigkeiten einseitig abgemeldet - ein Akt, der sich unfair und egoistisch anfühlt. Pacta sunt servanda - dem bin ich nicht gerecht geworden. Ich kann nun nur noch die Verträge erfüllen, die mit Geld aufgeladen sind. Das Geld macht den Menschen ehrlich.
In einer Besprechung vor Weihnachten war ausreichende Selbstsorge als Basis für gute Lehre verankert worden. Die Darstellung aktualisiert sich für mich nun in geradezu universeller Art und Weise. Ich frage mich, wie andere Menschen Zeiten von Leiden der nahen Angehörigen verarbeiten. Jeder macht es anders: einige gehen nach dem Besuch der Intensivstation erst einmal vor der Türe "eine rauchen". Zu sehen, wie ein Mensch drinnen um Sauerstoff ringt und wie einem anderen Menschen draußen nichts Besseres einfällt, als diese so wertvolle Atemluft bei noch 100% SpO2 nun maximal für sich selbst zu vergiften und dieses definitiv toxische Gemisch dann in die noch funktionierenden Lungen zu saugen, ist schier unerträglich.
Wir sind hetzt bei Tag 70. Ich bin noch vollkommen fern von jedem nur im Ansatz regelmäßigen pflegerischen Engagement - zur Zeit nur mehr schlecht als recht engagierter Beobachter. Ich sehe aber jetzt schon, dass es nicht ausreicht, Angehörige nur für die Pflege freizustellen. Es bedarf auch der Zeit der Selbstsorge, damit zwischen eigenem Leben und nahem Leid die Balance gewahrt bleibt.
Die Wetterlage
Alle Vitalwerte stabil. Leider wieder durchgängig unter Beatmung. Sie beklagt Luftnot - das können wir auch ohne Sprachkanüle klar verstehen. Ein Rückschritt. Vielleicht ist die Kanüle, die den Luftröhrenschnitt stabilisiert, nach so vielen Tagen weniger durchgängig. Das wird der Arzt untersuchen. Mehr Bewegung in den Armen. Wir haben ein Tablet gekauft. Zum Glück gibt es auf der Intensivstation eduroam. Eine Liveschaltung zum Urenkel, schafft für einige Minuten etwas Lächeln.