eins zu drei

oder: wie sich Pflegenotstand anfühlt

Uwe Kaspers am 25.12.2018

begrenzte Rationalität

Im Sommer spielt Paolo Conte in Köln open air vor dem Dom. Das wird – ziemlich sicher – ein tolles Konzert. Die Karte war mit 125 € jedenfalls so teuer, dass ich mir aus reiner Selbstachtung, sollte das Konzert wirklich mies sein, nicht eingestehen werde, das Geld 'zum Fenster herausgeworfen' zu haben. Solche Ausgaben tätigen wir halbwegs rational. Denn: Das Ereignis liegt relativ nah an der Gegenwart, ist positiv besetzt und die Eintrittswahrscheinlichkeit ist so hoch, dass es als sicher gelten kann. Sollte das Ereignis nicht eintreten, wenn die Veranstalter das Geld zurückzahlen. Die Konzertkarten bezahlen auch nur genau die Personen, die die Veranstaltung besuchen werden.

Bei Dienstleistungen des Gesundheitswesens ist es ganz anders. Die Zeitdifferenz zwischen Einzahlung in die Versicherung und Auszahlung der Behandlungskosten ist vergleichsweise lang, denn die allermeisten Krankenversicherten, nutzen ihren Versicherungsschutz in großem Maße erst in den letzten Jahren ihres Lebens. Die Schar an Krankheitsereignissen ist vergleichsweise groß und die Eintrittswahrscheinlichkeiten der einzelne Ereignisse sind vergleichsweise klein. Als Ideal unseres Ablebens haben wir Udo Jürgens vor Augen, der keine scheinbar gesund zwei Wochen nach seinem letzten Auftritt beim Spaziergang zusammenbrach. Darauf spekulieren wir. Im Gesundheitswesen zahlen die Gesunden für die Kranken und die Gesunden bestimmen über die Ressourcen, die den Kranken zugedacht werden.

Angesichts dieser Lotterie auf die Zukunft fällt es dem gegenwartsbezogenen Menschen schwer, heute auf so viel Geld in der Gegenwart zu verzichten, dass zukünfig im mehr oder weniger wahrscheinlichen Fall der Inanspruchnahme von mehr oder weniger umfangreichen Gesundheitsleistungen später wirklich genug zur Verfügung steht.

Das Ergebnis dessen beobachte ich seit 10 Wochen auf der Intensivstation. Als Personalschlüssel ist ein Verhältnis von einem Pfleger auf zwei Patienten vorgesehen. Nicht selten – zumindest so häufig, dass es mir immer wieder auffällt – wird nur ein Verhältnis von eins zu drei realisiert. Das ist eine Leistungseinschränkung von 33% bzw. ein Produktivitätsfortschritt von 50 %. Da sich ja niemand aus Spaß auf die Intensivstation legt und kaum jemand die Behandlung dort im Terminkalender vorgeplant hat, wird jedes jetzt besetzte Intensivbett wirklich gebraucht. Aus Sicht des Allgemeinwohls wäre es keine gutes Idee, so viele Intensivbetten zu schließen, dass der vorgegebene Personalschlüssel eingehalten werden kann. Das Notprogramm von eins zu drei ist wahrscheinlich die bessere Alternative. Wohl deshalb versuchen alle mit dem Notprogramm irgendwie klar zu kommen. Einige Pfleger entschuldigen sich sogar für die Verhältnisse, für deren Aufrechterhaltung sie den Kopf hinhalten.

Ob das Gesundheitswesen sein Versprechen gegenüber dem Nutzer einlösen kann oder nicht, ist in ziemlich hohem Maße, von der Stimmung derjenigen abhängig, die in der Stunde der Wahrheit – also dann, wenn die Dienstleistung erbracht wird – dem Patienten und seinen Angehörigen gegenübertreten. Das ist außerhalb von Dienstleistungen ganz anders. Wenn Tim Cock bei der Vorstellung des neuen iPhones in Kalifornien gute Stimmung macht und das Gerät dann millionenfach verkauft wird, wird die Begeisterung seiner Nutzer jedenfalls nicht dadurch getrübt, dass diejenigen, die das Gerät zusammengebaut haben, mies drauf sind.

Den Markt nutzen, jetzt

Bei aller Regulierung des Arbeitsmarktes ist es den Angestellten im Gesundheitswesen zum Glück noch erlaubt, ihr Arbeitsverhältnis zu kündigen und sich ein besseres zu suchen oder sich gar freiberuflich zu verdingen. Es muss erst schlechter werden, bevor es besser werden kann.

Offensichtlich wirken die Marktmechanismen im Bereich des Arbeitsmarktes für Pflegekräfte derart träge, dass der Preisauftrieb (Erhöhung der Löhne) das Mengenproblem nicht lösen kann. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass es sich bei Arbeitsverhältnissen um massenweise gleiche Dauerschuldverhältnisse handelt. Die Nachfrager der Arbeit - also die Krankenhaüser - hätten wohl grundsätzlich kein Problem, den jeweils neuen Pfleger zum jeweils aktellen Marktpreis einzukaufen. Aus Fairnessgründen müssten sie dann aber dazu bereit sein, die bereits vorher und günstiger eingekauften Pfleger zum selben Preis zu vergüten. Sie fürchten die wirtschaftliche Sprengkraft dieses Folgeeffekts und das Veto der gesunden Beitragszahler. Das macht das System träge. Ohne Mobilität der Marktteilnehmer aber werden die Marktktäfte nicht wirksam.

Zum Glück gibt es Pfleger, die auf die positiven Auswirkungen des viel zu trägen Marktmechanismus nicht warten wollen. Sie nutzen den Markt richtig und schon jetzt. Sie wechseln den Arbeitgeber, suchen sich als neue, die besser zahlen oder bessere Bedingungen schaffen. Es gibt auch einen nennenswerten Übertritt zu Zeitarbeitsfirmen, die die Pflegekräfte dann genau den Krankenhäusern zum Rückkauf anbieten, von denen sie kurz vorher 'geflohen' sind. Auch wenn es sich dabei im Einzelfall nicht tatsächlich um das selben Krankenhaus handelt, sondern um das Krankenhaus nebenan, das den Pfleger wieder anheuert, bleibt es strukturell dasselbe. Der Übertritt zur Zeitarbeit ist wahrscheinlich für alle Pfleger wirksamer als der Wechsel des Arbeitgebers. Der höhere Rückkaufpreis, den die Krankenhäuser in ihrer Not bereit sind zu zahlen, zeigt den Marktwert des letzten fehlenden Pflegers. Je mehr Pfleger diese Variante nutzen, desto eher werden die Krankenhäuser bereit sein, die verbliebenen Pflegekräfte durch höhere Löhne zu halten. Aus meiner Sicht kommt der Zeitarbeitsbranche im Gesundheitswesen im Hinblick auf die Anhebung der Vergütung eine mindestens so große Wohlfahrtswirkung zu wie den Gewerkschaften.

Nach einigen Gesprächen mit Pflegekräften, die sich in der Branche auskennen, denke ich, dass sich durch einen Übertritt in die Zeitarbeit ein bis zu 1000 € höheres Grundgehalt erzielen lässt. Auch ist von Dienstwagen und der Vorgabe von arbeitsfreien Zeiten bzw. Tagen die Rede. Drei Preiseffekte wirken beim Rückkauf von Pflegekräften über die Zeitarbeit. Zunächst verlangt der Pfleger eine höhere Vergütung, um die Position in Krankenhaus zu verlassen. Die Zeitarbeitsfirma muss ihre administrativen Kosten decken und Gewinn erwirtschaften. Und zuletzt erhebt der Staat auf das an die Zeitarbeitsfirma zu zahlende Entgelt noch die gesetzliche Mehrwertsteuer. Wenn jeder Effekt 20% ausmacht, ergibt sich schnell ein ca. 60%-iger Aufschlag auf den 'Normalarbeitnehmer-Lohn'.

Pflegekräfte, die noch etwas mutiger sind, können sich den Umsatzsteueranteil des Aufschlags in die eigene Tasche stecken, wenn sie sich freiberuflich verdingen und sich zum Marktpreis incl. MwSt. verkaufen. Denn Pflegeleistungen sind im Unterschied von Personaldienstleistungen von der Umsatzsteuer befreit. Wer also 40 % mehr verdienen möchte anstatt nur 20 % als Arbeitnehmer in der Zeitarbeit, sollte sich für die freiberufliche Tätigkeit entscheiden. Er kann dann 20 % des bisherigen Lohnes für sein organisatorisches Hinterland oder gar einen professionellen Vermittler verwenden. Ich denke tatsächlich, dass wir der Pflegebranche und den dort verbleibenden Beschäftigten mittel- bis langfristig am meisten dienen, wenn wir mehr und mehr Arbeitnehmern Wege in die Selbständigkeit weisen. Das sollten wir auch als Hochschule verfolgen und entsprechende Kompetenzen der Selbstorganisation (persönlich und adminstrativ) vermitteln.

Von Mc Donalds lernen

Die Bonner Uniklinik reagiert auf den Personalmangel noch mit einer ganz anderen Alternative, die mir tatsächlich sehr sinnvoll erscheint. Dort wurden – wie mir gesagt wurde – 150 Pflegekräfte von den Philippinen rekrutiert. Die Einarbeitung gestaltet sich wahrscheinlich deutlich schwieriger als ursprünglich gedacht. Dies hängt wohl mit der zunächst positiv zu bewertenden Dienstleistungsbereitschaft und der - eher negativ - mangelnden Fehlerkultur der philippinischen Arbeitnehmer zusammen. Offensichtlich sind die neuen Pflegekräfte einerseits extrem bemüht, die von ihnen geforderten Aufträge auszuführen, geben jedoch andererseits zu spät oder gar nicht Nachricht, wenn es dabei zu Schwierigkeiten kommt. Eine bedingungslose Haltung im Sinne von "wird gemacht Chef" ist auf der Intensivstation jedenfalls insbesondere dann nicht ratsam, wenn man mit "dem machen" schlicht überfordert ist.

Dennoch: der Fachkräftemangel insgesamt ist nur mit Auslandsrekrutierung zu lösen. Dabei fügt es sich wunderbar, dass die Gesellschaften in der Bundesrepublik und den anderen Industriestaaten auf einen krassen Altenüberschuss zusteuern, während afrikanische Länder einen ebenso krassen Jugendüberschuss kaum bewältigt bekommen. Hier müsste gemeinsame Not zusammen schweißen. Wichtiger als eine zusätzliche Pflegeschule in Neunkirchen-Vlyn wäre also eine in Nairobi, besser eine in Conakry als in Konstanz. Dazu sollten wir das System der deutschen Schulen im Ausland auch auf die berufsbildenden Schulen erweitern und entsprechend ausbauen. Die Akademisierung der Pflege wird das Mengenproblem m.E. nicht lösen, weil viele Motive der Akademisierung eher vom Bett wegführen. Wenn wir Akademisierung aber mit interkultureller Kompetenz kombinieren, könnte vielleicht etwas daraus werden. Wir brauchen jedenfall in Bettnähe Menschen, die in der Lage sind, gute Pflege mit Menschen aus aller Herren Länder herzustellen. So ähnlich wie uns dies Mc Donald mit Hamburgern seit Jahren vormacht.

Es begab sich zu der Zeit ...

Wie fühlt ich nun Personalmangel in der Pflege im Alltag als Angehöriger an? Hier einige Beispiele:

  • Ein Pfleger teilt mit, dass er heute drei Patienten hat. Patient Nummer 3 komme gleich aus dem OP und werde wohl seine allermeiste Zeit binden.
  • Der Patient wird nur dann zum Kreislauftraining in Sitzpositionen gebracht, wenn genug Personal vorhanden ist. Das Aufrichten, die Lagerung um sitzen und die erneute Lagerung im Liegen bindet insbesondere insbesondere bei Patienten, die sich nicht bemerkbar machen können, deutlich mehr Personal.
  • Über Weihnachten betreut eine Pflegekraft, die über eine Zeitarbeitsfirma bereit gestellt wird, die Station.
  • Ein Pfleger teilt mit, dass er nicht mehr lange auf der Station arbeiten werde. Auf die Frage, wer schneller weg ist – die Patientin oder der Pfleger –, antwortet er: "ich". Wir kommen in ein nettes Gespräch. Wir der Pfleger erklärt, werde er nicht in die Zeitarbeit wechseln, obwohl er weiß, dass man dort ca. 1000 € pro Monat mehr verdienen kann. Ihm gehe es weniger um das Geld als vielmehr um die Arbeitsbedingungen. Er sehe nicht, dass er bei einem Personalschlüssel von eins zu drei auf Dauer gesund bleiben kann. Er möchte, wie er sagt, gesund in die Rente kommen. Er sieht dies eher gewährleistet, wenn er auf einer Intensivstation in einem Krankenhaus ohne Maximalversorgung wechselt. Dort werden, wie er erklärt, die wirklich kritischen Patienten an die Unikliniken "abgeschoben", so dass er sich bei seinem neuen Arbeitgeber bei gleicher Bezahlung deutlich bessere Arbeitsbedingungen verspricht.

Die Wetterlage

Alle Vitalwerte ok. Die Atmung geht nun besser. Am Vorabend wurde eine neue Atemkanüle eingesetzt. Es muss aber immer wieder abgsaugt werden, das Einsetzen der neuen Kanüle im Luftröhrenschnitt eine kleine Wunde verursacht hat, die - auch wegen der Blutverdünnung - länger blutet. Leider funktioniert deshalb auch heute das Sprechen über die Sprechkanüle nicht.
Heute peinigen Bauchschmerzen. Das bekommen Pfleger, Ärztin und wir raus durch Lippenlesen und Zeichensprache heraus. Dies hatte sich schon vor einigen Tagen angedeutet. Die Atmung war da aber noch die wichtigere "Baustelle". Lösung für die Bauchschmerzen: Schmerzmittel ... hm, wenig ursachenorientiert.
Die Bewegungsfähigkeit der Arme nimmt zu. Die Unterarme schaffen es nun, die Hände abzuheben. Die Oberarme funktionieren noch nicht. Wir hoffen weiter auf einen schrittweisen Rückbau der Intensivmedizin. Dafür ist Weihnachten aber eine schlechte Zeit.