Ahnungslos
Vor einigen Wochen noch machte ich mir kein wirkliches Bild von Intensivmedizin. Die einzigen Eindrücke kamen von Arztserien, die meine Frau zur Entspannung auf Netflix schaute, und die Geschichten meines Sohnes, der - nun im Medizinstudium - auf einer anderen Intensivstation als Krankenpfleger arbeitet. Immer waren es die Geschichten der anderen.
Jetzt aber kam die Intensivstation ganz nah - auch deshalb weil nur nahe Angehörige auf der Intensivstation als Besuch zugelassen sind und ich deshalb in - gefühlt - jeder freien Stunde real und einen großen Teil des Rests der Zeit mental dort war. Die Offenlegung der Mechanismen des Mensch-Maschine-Systems, die Kunst der rechten Dosierung der jeweils notwendigen Medikamente und dies verbunden mit der ständigen Frage, wieviel Leben die Intensivstation wirklich zu retten vermag, machten ihren Aufenthalt nun auch zu meinem Geschichte.
Die Ampullen und Spritzen bevoraten für mich auch jetzt noch weitgehend mysteriöse Chemikalien mit undurchschaubarem Wirkmechanismus. Ich bilde mir aber ein, nach nun fast 11 Wochen learning by amazement (lernen durch stauen) einige Substanzen in die Gruppe der eher versorgenden und andere in die Gruppe der eher agressiven Mittel einordenen zu können ... wobei es stets auf die Konzentration ankommt.
Sauerstoff und Noradrenalin
Beide Mittel gehören eher zu den agressiven Mitteln. Sauerstoff in hoher Konzentration gegeben ist ein ziemlich aggressives Gas, sodass die Ärzte nur über begrenzte Zeit hohe Dosen an Sauerstoff geben können. Sauerstoff hilft aber bei schwachem Herzen und schwachen Lungen dennoch eine hinreichende Versorgung insbesondere des Gehirns zu gewährleisten. Das wahre Wundermittel aber ist Noradrenalin. Noradrenalin verengt die Adern und sorgt so für ausreichenden Blutdruck. Zu geringer Blutdruck birgt die Gefahr der Unterversorgung in periferen Körperregionen. Dies kann schnell zum Tode führen.
Ich kann die Dosierung nicht in den korrekten Einheiten wiedergeben. In der kritischen Phase der Intensivbehandlung - zu Zeiten eines septischen Schocks - war die Dosierung des Noradrenlin auf 80 Einheiten eingestellt. Später konnte das Medikament auf 8 bis 10 gesenkt werden. Ich ging davon aus, dass diese Dosis fast nichts sei. Jedoch brach der Blutdruck fast zusammen, sobald die Spritze mit Noradrenalin - weniger Stunden nach dem Aufziehen - leergepumpt war. Wahrscheinlich hätte in dieser Phase ein Absetzen des Medikamentes zum Tod geführt.
Noradrenalin zählt zum Handwerkszeug der Intensivmediziner zur - wie sie es nennen - chemischen Reanimation. Ein Mensch, dessen Körperfunktionen sich schnell auf das Körperzentrum reduzieren und der bis zum schnellen Tod nur noch über ein im Notfallmodus funktionierendes Gehirn mit entsprechender Kreislaufanbindung verfügt, wird so im Sterbeprozess aufgehalten und zurück ins Leben geholt. Wir haben das morgens um 1:30 Uhr live erlebt, nachdem wir von der Intensivstation gerufen wurden. Es könne sein, dass es in dieser Nacht zu Ende gehe. Gegen 4 Uhr morgens sind wir - nach getaner chemischer Reanimantion - wieder nach Hause gefahren.
Diese chemische Reanimation nach Sepsis hat ihren Preis. Er heißt Critical-Illness-Polyneuropathie. 70% der Patienten mit Sepsis auf Intensiv zahlen diesen Preis. Wir haben nicht entschieden, die Behandlung abzubrechen. So forderten die Krankheit bzw. ihre lebenrettende Behandlung genau diesen Preis.
Seitdem ich in der Nacht im Oktober die beeindruckenden Werte des Noradrenalin realisiert habe, brachte der Blick auf den Pumpautomaten und das Ablesen der Wertes an jedem der Besuchstage einen Indikator der Regeneration. Heute - an Tag 74 - wurde die Pumpe, die über längere Zeit auf 3 bis 5 und in den letzten Tagen mit 0,1 nur noch auf stand by für den Notfall stand, nun abgestellt. Der Körper schafft es wieder, einen angemessenen Blutdruck ohne Noradrenalin aufzubauen.
Defaultwert: Rettung
Meine Lehre aus der Noradrenalin-Geschichte ist, dass ich keine Patientenverfügung verfassen werde. Ich denke, ich lebe in der besten aller Zeiten, und ich bin super dankbar, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse mein Leben bereichert haben. Warum sollte ich von vorne herein darauf verzichten, mein Leben auch im Extremfall mit Hilfe der Intensivmedizin noch einmal zu verlängern? Mit dem Ausschließen von bestimmten Behandlungen in bestimmten Situationen würde ich mir diese Chance nehmen. Grundage dieser Entscheidung - etwas über den Auschluss der chemischen Reanimation - wäre die Abwägung von Kosten und Nutzen der Behandlung. Das Problem dieser Entscheidung besteht jedoch darin, dass sich dieses Kalkül nach Lage des Einzelfall und im Licht der aktuellen Behandlungsmöglichkeiten auf der Höhe des aktuellen medinische Fortschritts jeweils neu stellt. Ein pauschaler Ausschluss einer Behandlung wäre eine Fehlentscheidung, wenn anders als vorher erahnt in der jeweils aktuellen Situation doch gute Optionen auf Wiedergewinnung von Lebensqualität bestehen. Die Entscheidung muss also im Lichte der konkreten Situation ggf. von anderen getroffen werden. Deshalb besser keine Patientenverfügung.
Viel wichtiger ist m.E. eine durchdachte Vorsorgevollmacht. Hier beantwortet der Patient die Frage, wer für ihn in einer Situation, in der er nicht mehr entscheiden kann, auch über Leben und Tod oder Behandlung oder dessen Einstellung entscheiden soll. Es ist dann hilfreich, wenn die Person eine Vorgabe in Form von Leitlinien hat. Meine Erfahrung zeigt, dass die Ärzte hier die ernsthafte Auseinandersetzung suchen und den Willen des Bevollmächtigten als vollwertigen Ersatz des nicht entscheidungsfähigen Patienten respektieren.
Insofern ist die Vorsorgevollmacht natürlich ein Test auf die Belastbarkeit von Beziehungen. Um diese Beziehungen im Ernstfall nicht zu überlasten, gehört zum Sterben Lernen auch die Kommunikation über die Wahl oder Abwahl von Leiden als Preis für Weiterleben.
Die Wetterlage
An Tag 74 sind alle Vitalwerte ok. Die Atmung geht stabil und wird als anstrengend enpfunden. Es soll nun immer weiter von der Atemunterstützung entwöhnt werden. Wahrscheinlich ist das bloße Atmen ein herausforderndes Training für die völlig erschlaffte und in weiten Teil noch nicht kontrollierbare Muskulator des Oberkörpers. Nach einem sehr belastenden Fehlversuch vom Vortag, eine Sprachkanüle aufzusetzen, haben wir uns heute damit abgefunden, nicht sprechen zu können, und auf einen weitere Versuch verzichtet.
Wir lernen immer besser, von den Lippen abzulesen. Sie lernt immer besser, nur mit den Lippen zu sprechen. Abr die Kommunikation ist doch sehr eingleisig und eingeschränkt. Der rechte Arm und die rechte Hand kann deutlich mehr als die linke. Ein Löffel könnte es bald bis zum Mund schaffen. Koordinationsübungen mit beiden Händen oder ein Versuch mit dem Finger, Buchstaben auf ein Tablet schreiben zu lassen, scheitern. Wochenlang reden zu wollen und nicht verstanden zu werden, ist nicht gut für die Psyche. Könnte hier mal bitte eine bessere Schnittstelle erfinden?
Noch drei Flaschen sammeln Wundsekret von der letzten Operation. Nun soll jeden Tag eine Kanule gezogen werden. Das ist wieder ein sichtbarer Schritt auf dem Rückweg ins Leben.
Hoffnung vermitteln mit scheinbar Belanglosem ist eine Disziplin, in der alle anderen in meiner Familien - insbesondere C - viel besser sind als ich.