Qualitätsmanagement

oder: die Utopie von Peters Intensivstation

Uwe Kaspers am 01.01.2019

alles zertifiziert

Mir sind sie lange Zeit gar nicht aufgefallen, die drei gerahmten Blätter Papier mit dem Nachweis der Zertifizierung der Einrichtung nach einem Qualitätsmanagementsystem. Es prangt an der Wand in der Eingangshalle, um jedem freiwilligen oder unfreiwilligen Benutzer der Einrichtung klarzumachen, dass es beim Thema Qualität hier in irgendeiner Weise systematisch zugeht.

Gestern war Tag 77. Wir hatten es schon ganz vergessen, aber der Patientin war es trotz Beatmung und eingeschränkter Kommunikation durch Ablesen von den Lippen doch so wichtig klarzumachen, dass der Pfleger heute seinen letzten Arbeitstag hat, bevor er die Klinik verlässt und zu einem Arbeitgeber mit besseren Konditionen wechselt. Der Pfleger war der mit Abstand Erfahrenste, derjenige, der maximale Ruhe und Routine ausstrahlte. Er war nach meiner Wahrnehmung einer von nur Zweien im unübersehbar großen Team von Festangestellten und Kräften von Zeitarbeitsfirmen, die offensichtlich die deutsche Sprache als Muttersprache erlernt hatten.

Qualität von unten betrachtet

Sprache ist das A und O sagt er, als er die Kanülen auswechselt, um unfreiwillig noch einmal das Loch zu vermessen, das er in dem Team reißt. Es macht halt einen gewaltigen Unterschied, ob man in der Lage ist, Freundlichkeiten in immer wieder andere Worte zu kleiden oder ob das nur mit Standardfloskeln gelingt. Sicher sind die Standardfloskeln ebenso nett gemeint, sie kommen aber nicht ebenso gut an. Der Kollege, der gegangen ist, gehörte zu den Älteren. Alter ist in der Pflege ohne Frage ein Hinweis auf Qualität. Alter geht einher mit Erfahrung und bedeutet, eine ganze Schar von Situationen bereits einmal erlebt zu haben und deshalb Wege zu kennen, wie solch schwierige Situationen erleichtert werden können. Bereits der Gesichtsausdruck der jüngeren, unerfahrenen und häufig der deutschen Sprache nicht vollkommen mächtigen Pfleger lässt die latente Überforderung mit der Situation erkennen.

Noch ein Indikator, an dem Qualität auf recht simple Weise sichtbar wird. Der Kollege, der gestern seinen letzten Arbeitstag hatte, zeigte Interesse an den Angehörigen und merkte, dass die Angehörigen am Bett nebenan einen weiten Weg zur Klinik und keine Auto hatten. Er kam dann beim nächsten Mal mit einer Fahrtplanauskunft, um den Angehörigen zu zeigen, wie sie die Klinik am einfachsten mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen können. Das ist Service, kostet fast nichts, hat kein Kreuzchen im QM-System, ist aber Gold wert.

Wenn sämtliche Körperfunktionen davon abhängen, dass weitere Personen ständig ein komplexes medizintechnisches System justieren, entsteht ein extremes Gefühl von Abhängigkeit. Es ist sicher kein Zufall, dass viele Unternehmer ihr Geschäft nach dem Namen des Chefs oder der Chefin benennen. Wenn die einen also in Luigis Pizzeria speisen oder sich andere in Karins Nagelstudio aufhübschen lassen, dann schwingt immer mit, dass Luigi und Karin in letzter Verantwortung für die Qualität geradestehen. Natürlich ist es vollkommen unrealistisch, so etwas wie 'Peters Intensivstation' zu verlangen, aber die Konstanz von bestimmten Personen und eine Aussage wie: "Ich trage hier für die ärtzliche Versorgung bzw. die Pflege Verantwortung" wäre ein Ausdruck von Qualität. Auch weniger Köpfe, die dafür länger bzw. öfter vor Ort sind, könnte helfen, dass sich so etwas wie soziale Verbindlichkeit einstellt. Das könnte man anhand einer Auswertung des Dienstplans auch messen. Hier die Kennzahlen:

Pflegesplitindex_a = Anzahl der verschiedenen Köpfe / Woche

Pflegesplitindex_b = Mittelwert(Einsatzstunden Mitarbeiter A / Woche; Einsatzstunden Mitarbeiter B/ Woche; ... über alle Mitarbeiter)

Gute Qualität würde mithin bedeuten, Pflegesplitindex_a vergleichweise gering und Pflegesplitindex_b vergleichsweise hoch sein.

Es macht aus Sicht des Patienten und der Angehörigen keinen Sinn, wenn wir von ganzheitlicher Sicht auf den Menschen reden, diese Sicht aber durch eine unüberschaubare Anzahl von Augen geschieht.

Natürlich sehen wir auch positive Aspekte des Qualitätsmanagements. So wird peinlich genau dokumentiert, welche Vitalwerte sich gerade aktuell einstellen und welche Medikamente gegeben wurden bzw. in den nächsten Stunden gegeben werden müssen. All dies ist sinnvoll und sollte natürlich eher früher als später in Software "gegossen" werden, anstatt täglich Fahnen von Papier zu bekritzelt und für den Fall der Fälle abzuheften.

Was wir in nun 78 Tagen täglicher Präsenz auf der Intensivstation zu keiner Zeit feststellen konnten, ist, dass sich irgendjemand systematisch für die konkrete Qualität am Bett in irgendeiner Weise interessiert. In vielen zweitklassigen Systemrestaurants finden sich QR-Codes mit Links zu Web-Seiten, auf denen der Kunde die Qualität der Pizza oder der Bedienung bewerten kann. Immer mehr Autohäuser, lassen ihre Kunden zurückrufen, nachdem man sein Auto zur Inspektion gebracht und abgeholt hat. Die fragen dann nach dem Befinden des Autos und der Zufriedenheit mit dem Service. Nichts dergleichen im Krankenhaus. Vielleicht ist der sicherste Weg, den Servicegedanken aus einem Unternehmen zu vertreiben, dort die Führung eines Qualitätsmanagementsystems vorzuschreiben.

Es mag zynisch klingen, aber es hilft nicht, die auf der konkreten Ebene offensichtlich mangelhafte Qualität, auf der Ebene einer ersten Ableitung – nämlich der Dokumentation – auf ein Niveau abgesicherter Qualität zu bringen und in Laienspielgruppen von Qualitätsaudits ein Schauspiel unter dem Titel "Wie schön könnte die Pflege sein, wenn wir die Ressourcen dafür hätten" aufzuführen.

Der Pfleger aus Kraotien, der heute Dienst hat, nutzt ein neues Feature, der Bildschirmüberwachung: wenn man drei Patienten in zwei Zimmern betreut, kann man den Bildschirm eines Patienten teilen, sodass in dem Zimmer mit dem zwei Patienten die Vitalwerte des dritten im andere Zimmer eingeblendet werden. So lässt sich die Überforderung der Überwachung wenigstens technisch begenzen.

Wieder gestern: Ich werfe als Witz ein, dass wir den Pfleger gerne aus dem Arbeitsvertrag mit dem neuen Krankenhaus heraus gekauft hätten, worauf er antwortet: "Das wär'n Ding." Ja das wäre ein Ding, wenn die empfundene und durch konkrete Parameter belegbare Qualität der betroffenen Kranken und ihre Angehörigen in der Betreuung im Krankenhaus irgend eine monetäre Konsequenz hätte. Nämlich die Konsequenz, dass mehr Geld im System wäre für das, was die Patienten konkret als Qualität empfinden und die Menschen, die diese Qualität konkret herstellen. Natürlich sind wir darauf gefasst, nach einer hoffentlich mehr oder weniger gelungenen Rehabilitation monatlich mehrere Tausend Euro dafür auszugeben, dass eine gute Betreuung sichergestellt ist. Warum ist es nicht vorgesehen, die ohne Frage vorhandene Zahlungsbereitschaft von Patienten und Angehörigen für eine Verbesserung der Betreuung im Alltag der Klinik wirksam werden zu lassen?

Gleich neben der Eingangstür zu Intensivstation sind zwei laminierte Blätter mit den Kontaktdaten des evangelischen und katholischen Pfarrers aufgeklebt. Wir verspüren keinen Reflex, dort anzurufen. Irgendwie fühlt es sich unfair an, den Kontakt zur örtlichen Kirche weitgehend abgebrochen zu haben und gerade nun in der Situation großer menschlicher Not auf sie zurückgreifen zu wollen. Außerdem sind es ja ziemlich diesseitige Probleme, die die Situation verbessern könnten: einfach mehr erfahrene Leute.

Die Wetterlage

Seit einer Woche ergeben sich keine Veränderungen. Was zwischendurch etwas beunruhigt hat, waren entweder gemessene oder tatsächliche kurze Herzstillstände, die auf eine Fehlfunktion oder Fehlübertragung des Herzschrittmachers hindeuten könnten. Die Ärzte haben deshalb einen neuen Herzkatheter geschoben, an dessen Kopf sich nun Sensoren befinden, die die Herzaktivität besser ableiten. Seitdem haben sich keine Besonderheiten mehr gezeigt. Es ist immer wieder eine kleine Baustelle, die zurückgebaut werden muss.

Die Ärztin teilt mit, der Herzschrittmacher werde noch einmal neu eingestellt.

Das Liegen wird immer unbequemer; 11 Wochen mehr oder weniger in der Waagerechten führen zu mächtig Unwohlsein. Dennoch gibt es Fortschritte: die Rechte Hand hat es heute erstmals bis zum Mund geschafft. Wir beschließen, insbesondere das zu sehen, was wieder geht.

Das Warten auf die nächsten therapeutischen Schritte - Entwöhnung von der Beatmung - über Weihnachten und Neujahr ist für Patient und Angehörige wirklich quälend, insbesondere weil, wenn durch weiter andauernde Beatmung die Kommunikation so eingeschränkt ist.