Was ist der Mensch wert?

oder: 200.000 € für ein Schälchen Apfelmus

Uwe Kaspers am 06.01.2019

1500 € pro Tag

Zwischenzeitlich frage ich mich, was die Veranstaltung, der wir seit nun 83 Tagen beiwohnen, eigentlich kostet. 1500 € pro Tag und Intensivbett machen 125.000 €. Hinzu kommt der Einsatz von extracorporaler Membranoxidation (ECMO). Für 10 Tage macht das nochmal 26.000 € (siehe Preisliste S. 2). Ich lese weiter von 300 € Kosten für Dialyse pro Tag. Hinzu kommen die diversen Operationen (z.B. Herzklappe für 15.000 €, Schrittmacher, plastische Chirurgie). Nícht zu vergessen ist auch der Notarzteinsatz. Wir haben die 200.000 € Marke sicher schon weit hinter uns gelassen und werden die Viertelmillion-Grenze bald "knacken".

Wenn man sonst an einer Veranstaltung teilnimmt, die nur einen Bruchteil dessen kostet, zieht man sich für gewöhnlich schick an und putzt vorher nochmal über die Schuhe. Auf der Intensivstation braucht man schlicht NICHTS. Als Kleidung wird ein Überwurfhemd gestellt. Jedes Nachthemd müsste für Kabel und Schläuche durchlöchert werden. Pantoffel sind überflüssig, weil es keinen Weg mehr zur Toilette gibt. Alles wird gebracht und eingeleitet - Essen und Trinken über die Nase direkt in den Magen. Über Katheder an Darm, Blase, an den Wunden und im Zwischenraum zwischen Lunge und Brustkorb werden die Restprodukte des Stoffwechsels wieder abgeleitet. Man braucht keine Tasse, keinen Teller, kein Besteck, kein Toilettenpapier. Als Besucher bringt man keine Blumen und keinen teuren Traubensaft zur Stärkung mit. Insofern ist die Behandlung auf der Intensivstation die wohl teuerste Lebensphase bei gleichzeitig maximaler Askese.

Die Gegenleistung für den wirtschaftlichen Großeinsatz ist die schlichte Erhaltung der basalen Körperfunktionen, die ansonsten - bei mir und allen geneigten Lesern - völlig ohne bewusstes Zutun und äußeren Eingriff von Dritten - gewissenmaßen geschenkt - funktionieren.

Das hat Auswirkungen auf den mentalen Fokus: Anstatt den 'Luxus' genießen zu können, konzentriert sich der Patient z.B. auf die anstrengende Atmung. Wie schnell steigt der Schleim im Atemsystem bis wieder abgesaugt werden muss? Werden die Schmerzen am Rücken eher mehr oder weniger, wenn das Kopfteil des Betts 5 Grad höher oder tiefer gestellt wird?

Ähnlich verzerrt ist die Aufteilung und Wahrnehmung von Zeit. Während für den Patienten die Dichte von Aktivitäten pro Zeiteinheit auf ein Minimum bis zum 'Aktivitätsvakuum' reduziert wird, verdichtet sich für das Umfeld die Beschäftigung in extremer Weise. Der Zeiteinsatz der Profis lässt sich letztlich im Geldeinsatz ablesen, während die Angehörigen immer wieder ernüchternd daneben stehen mit der Einsicht, am Bett fast nichts tun zu können.

Apfelmus

Am 82 Tag kommt die lange ersehnte Logopädin, um Schlucken zu üben ... mit einem Schälchen Apfelmus. Ein Schälchen Apfelmus ist die erste Erdnung nach so langer Zeit des Lebens in der Kunstwelt von Flaschen und Beuteln, Sonden, Kanülen und Kathedern. Diese Schälchen waren die 200.000 € wert.

Dies sei allen vorgehalten, die unüberlegt meinen, der Mensch zähle in unserem "ökonomisierten" System nichts. Das ist m.E. ziemlich dummes Gerede. Unser System fragt bei der Rettung eines Menschenlebens mit guten Gründen nicht nach Kosten. Anders gesagt: die Wirtschaft ist derart produktiv, dass wir es uns leisten können, nicht nach den Kosten fragen zu müssen. Wir wägen nicht ab, ob wir einen Menschen aufwendig behandeln oder für das selbe Geld 1100 Kinder in Afrika ein Jahr ernähren und beschulen. Im Jahr 2018 lag das durchschnittliche Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten bei 37.873 Euro. Bei 14,6% Krankenkassenbeitrag kommen so 5529 € Pro Jahr oder 15,15 € pro Tag zusammen. In der Zeit, in der eine Person über 83 Tage behandelt wird, leisten es sich also ca. 160 Beitragszahler, ihre gesamten Krankenversicherungsbeiträge einzusetzen. Der ungezügelte Ökonom würde hier zumindest Effizienzfragen stellen. Das dies nicht zählt, ist ein klarer Sieg der Moral über die Ökonomie.

Die Wetterlage

Tag 82 und 83 brachten nun merklichen Fortschritt: erste echte Nahrungsaufnahme in Form von Brei und Quark und seit Tag 83 Wegfall der Sonderernährung über die Sonde durch die Nase - ein Schlauch weniger. Nun auch seit zwei Tagen Sprache über die Sprachkanüle. Dem rechten Arm fehlen nur noch wenige Zentiment, um einen Löffel bis zum Mund führen zu können. Der linke Arm ist noch deutlich weniger beweglich. Die Feinmotorik der Hände lässt es noch nicht zu, einen Löffel selbständig mit der Hand zu greifen. Beeindruckende 3 Liter Wasser sind in den letzten drei Tagen aus dem Brustkorb gelaufen. Wir hoffen, dass mehr körperliche Aktivität und mehr Lungendruck im Brustkorb diese Quelle versiegen lassen werden. Die Leukozyten waren am Tag der Punktion des Brustkorbes leicht erhöht, haben sich nun aber wieder normalisiert. Die Dialyse wird weiterhin eingesetzt.