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Wer pflegt eigentlich Herrn Gauland?
Seit gut 14 Tagen fahren wir einen Zweischichtbetrieb: Mittagessen und Abendessen. Durch die noch stärkere Präsenz am Bett wird das System der Intensivpflege noch transparenter. Wir haben vier Gruppen, die sich zahlenmäßig noch nicht so recht vermessen lassen:
Da sind zunächst (Gruppe 1) die in Deutschland aufgewachsenen und bei der Klinik angestellten Pfleger. Sie bilden eine Art Rückgrat der Station. Daneben finden wir (Gruppe 2) aus der EU zugewanderte Pfleger, die ebenfalls bei der Klinik angestellt sind - in unserem Fall komme sie aus Polen und Kroatien. Eine weitere Gruppe speist sich aus den Gruppen 1 und 2. Diese Pfleger (Gruppe 3) waren einmal in einer Klinik als Arbeitnehmer beschäftigt, haben aber gekündigt und sind zur Zeitarbeit - z.B. zu Adecco medical - gewechselt. Gruppe 3 umfasst ca. 10 Personen auf der Station. Sie genießen ein höheres Gehalt als ihre KollegInnen, haben fest planbare Freizeitblöcke, können aber nur zeitlich begrenzt an die Klinik verliehen werden. Ihnen fehlt langfristig die Einbindung in das Team. Gruppe 4 umfasst nun eine ganze Reihe von Pflegern von den Philippinen. Sie sind sicher gut ausgebildet, haben aber erhebliche Sprachschwierigkeiten und bedürfen noch ausführlicher Einarbeitung.
Eine fast groteske Szene mag dies verdeutlichen. Vor einigen Tagen komme ich am frühen Abend ins Krankenzimmer und treffe auf 7 Pfleger - zwei aus Kroatien und 5 von den Philippinen. Die Kroaten erklären - zum Teil um die richtigen deutschen Begriffe ringend - den noch schlecht Deutsch sprechenden Philippinen die Handhabung der Dialysemaschine. Da fragt sich der Laie, ob da wirklich jede Information so ankommt, wie sie gesendet werden sollte.
Ohne global Sourcing wäre die Station völlig verloren und ohne die Zeitarbeit, deren Preise den tatsächlichen Wert des letzten verfügbaren Pflegers widerspiegeln, wird sich für diejenigen, die noch einen Arbeitsvertrag mit der Klinik haben, wahrscheinlich nichts ändern. Das Streikrecht ist auf der Intensivstation ein stumpfes Schwert, weil es die Moral der Pfleger nicht zulässt, die Patienten einfach liegen zu lassen. Anstellt der kollektiven Arbeitsniederlegung wirkt aber hier die Kündigung, die Weitergabe des Verhandlungsmandats an die Zeitarbeit und der teurere Rückkauf durch die Klinik. Das Geschäftsmodell der Zeitarbeit behebt insofern in mehrfacher Hinsicht Verschwendung. Zunächst: Wegen des höheren Gehalts verkaufen die Zeitarbeiter ihre Arbeitskraft nicht unter Wert. Aufgrund der hohen Kosten der Zeitarbeit wird aber auch die Verschwendung der Arbeitskraft der jungen Generation in Ländern mit erheblichem Jugendüberschuss (Medianalter auf den Philippinen: 23,2 Jahre gegenüber Deutschland 46,5 Jahre) gemildert. Nun lohnt sich die Auslandsrekrutierung. Noch fairer gegenüber den Herkunftsländern wäre es allerdings, wenn das hiesige Gesundheitswesen dort in Ausbildungsstätten für die neuen KollegInnen und die Inlandsbevölkerung investieren würde.
Die Verhältnisse in der Pflege zeigt die Borniertheit der zum Teil nationalistisch und isolationistisch angehauchten Diskussion zur Einwanderung. Herr Gauland wird froh sein, wenn er von Pflegern aus aller Herren Länder versorgt wird.
labiles Gleichgewicht
Ich erlebe den menschlichen Körper als extrem austariertes System. Die Niere arbeitet nun bei erhebliche erhöhtem Harnstoffniveau - dies in der Hoffnung, dass sie richtig "anspringt" und diesen Wert dann senkt. Jedenfalls freuten wir uns, dass über 10 Tage keine Dialyse mehr lief. Der Wasserhaushalt ist weiterhin eine wichtige Baustelle. Ein schwaches Herz und wenig Bewegung bringt dieses System aus dem Gleichgewicht. Dies zeigt sich daran, dass nahe der Lunge viel Wasser anfällt, das wieder durch eine Drainage abgeleitet werden muss.
Essen und Verdauen ist ein ebenso labiles System. Auch dies kommt bei wenig Bewegung aus den Gleichgewicht. Nicht abführen zu können, führt zu schmerzhaften Krämpfen im Verdauungstrakt - jeglicher Appetit schwindet und macht das Essen zur Qual. Abführmittel bringen den Darm in Schwung führen jedoch ebenfalls zu starken Leibschmerzen. Das Unwohlsein im Verdauungstrakt wiederum bringt jeden Bewegungsdrang zu Erliegen - ein Teufelskreis.
Weiter besteht eine Kopplung zwischen Psyche und Gift im Körper. Wie wir jetzt gelernt haben, wirkt der Harnstoffgehalt des Körpers auf die psychischen Verfassung. Der Normalwert für den Harnstoff bei einem gesunden Menschen liegt in der Größenordnung von 20 bis 50 mg/dl. Bei einer Konzentration von 200 mg/dl besteht Dialysepflicht. Lt. medizinischem Lehrbuch ist spätestens bei einer Konzentration von 300 mg/dl von neurologischen Ausfällen auszugehen. Mit steigendem Harnstoffspiegel stellte sich aber nun schon bei einem Wert von gut 150 mg/dl ein psychoseähnlicher Zustand ein, sodass die Dialyse wieder aktiviert werden musste. Wegen der Tendenz, Kanülen heraus zu reißen, mussten sogar die Hände soweit fixiert werden, damit die gelegten Zugänge sicher bleiben.
Dass unser Körper es unwillkürlich schafft, an verschiedenen Stellen ein sehr fragiles Gleichgewicht zu halten, führt angesichts der eindrücklichen Beobachtung der Auswirkungen des Zusammenbruchs dieses Gleichgewichts zu einem extremen Respekt vor dem Ergebnis des evolutionären Prozesses, den gläubige Menschen wohl Schöpfung nennen. Wie auch immer: es war mir ein Bedürfnis, Studierenden, die vor der Hochschule "eine rauchten" zu sagen, dass sie m.E. keine Vorstellung von dem Wert eines gesunden Atemzugs haben. Es ist angesichts der Labilität des Systems Körper schwer nachvollziehbar, warum wir zulassen, ihn mit Lebensmitteln zu quälen, die viel zu viel Salz, Industriezucker oder falsche Fette beinhalten. Vom Bewegungsmangel vieler ganz zu schweigen.
100-Tage-Bilanz
Heute war der 104. Tag auf der Intensivstation. Wir schaffen es, an jedem Tag zwei Besuche einzurichten, sind jedoch vom Zeiteinsatz am Limit. Der Umgang mit Zeit verändert sich kolossal. Die Konzentration auf den jeweiligen Tag lässt weitgehend die Antizipation schwinden. Es gelingt mir kaum noch, an Zukunftsprojekten zu arbeiten. Die Gedanken kreisen um die nächsten Stunden und Tage. Ich verstehe, wie Menschen, die ihre Angehörigen pflegen, sämtliche Verpflichtungen aufgeben, ohne an die "Rückfahrkarte" nach der Pflegezeit zu denken. Es fällt schwer, Hoffnung zu verbreiten. Alle Bewertungen der jeweils aktuellen Situation, die Hoffnung machen könnten, verschwimmen im Lichte der vernünftige Gedanken, die die Finalität des Lebens gerader nach 104 tagen Intensivstation berücksichtigen. Die Wahrscheinlichkeitsverteilung jedenfalls spricht gegen eine Genesung. Dieselbe Verteilung schließt die lebende Entlassung von der Intensivstation aber nicht aus.
Eine ganz neue Erfahrung ist es, die Patientin, die sich in psychotischen Zustand im Redeschwall zergeht, vor dem mehr oder weniger beruhigenden Gespräch von der Fixierung zu lösen und nachher behutsam wieder "anzubinden". Es ist zu gefährlich, ihr die unbedachte Macht über die Dialysezugänge zu eröffnen. Die Psychose bringt eine eigentümliche Mischung von Fehleinschätzungen mit Metaphern für die ganze Erbärmlichkeit der Situation hervor: das Gefühl, im Keller gefangen zu sein; den Vorsatz, morgen in ein nobles Heim zur Probe einzuziehen; oder die Erwartung, übermorgen schon tot zu sein.
Die Wetterlage
Viele Fortschritte sind nun wieder zunichte. Essen, Trinken, Bewegung, Leben ohne Dialyse und psychische Klarheit sind - zumindest zur Zeit - verloren. Statt dessen haben wir wieder Sondenernährung, wohl keine Kooperation bei Physiotherapie, zumindest für einige Tage Dialyse und eine psychische Verfassung, die einer Psychose ähnelt - alles in allem ein massiver Rückschlag. Die Hoffnung ist, dass mit dem Abbau des Harnstoffes im Körper auch die in psychischer Hinsicht uns bekannte Person zurück kehrt. Wir sehen noch das Licht am Ende des Tunnels, aber der Tunnel ist wieder erheblich länger geworden.