Looking forward to old age?
Der Blog lag eine Zeit lang brach. Es kam die Vorbereitung auf eine Studienreise mit Studierenden der Evangelischen Hochschule Nürnberg nach Indien, die Reise selbst und die Nacharbeiten dazwischen. Bei Twitterlesen vor dem Einschlafen in Indien bin ich auf eine kleine ->Statistik gestoßen. Auf die Frage, ob sie sich auf die Zeit des Alters freuen, antworten mit ja ganze 73% der Menschen in Indien, aber nur 31% der Menschen in Deutschland. Woran mag das liegen? Ist es die Erwartung einer hohen oder geringen Lebensqualität in dieser Zeit oder schwingt auch weniger oder mehr Angst und Verdrängung der Umstände des Todes mit? Ist das religiös verankerte Vertrauen auf eine Wiedergeburt dort und die Skepsis hinsichtlich der Chance auf ein ewiges Leben hier der Grund? Der Unterschied ist jedenfalls eklatant. Wir arbeiten unaufhörlich an einer guten Gegenwart und uns gelingt es nicht, uns auf unsere eigene unvermeidliche Zukunft im Alter zu freuen. Vielleicht ein Grund mehr über das Sterben nachzudenken ...
Normalstation
Tatsächlich, wir - die Patientin und die Familie - sind seit gut 10 Tagen auf Normalstation! Darauf haben wir monatelang gehofft. Dies bringt eine Menge an Veränderungen mit sich:
- nur noch ein Schlauch für Infusionen
- keine Geräte mehr die blinken und piepen
- kein ständiges Wechseln der Dialyseflüssigkeiten
- Einzelzimmer
- Ruhe, fast zu viel Ruhe
Wir erleben nun den Pflegenotstand von einer etwas anderen Seite. Der Personalschlüssel ist jetzt nicht mehr - wie noch auf der Intensivstation - 1:2 oder 1:3, sondern wohl 1:8 oder 1:15. Hier prägen auch 'Pflegeimporte' von den Philippinen und aus Südosteuropa das Bild. Ohne diese engagierten Kräfte wäre die Station verloren bzw. verwaist. Ich lese eine Studie, die über den Integrationserfolg von Pflegekräften Auskunft gibt: siehe https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_416.pdf. Hier ist noch viel zu verbessern. Nicht zuletzt hat mir die Indienreise gezeigt, dass es global keine demographische Krise gibt. Wir haben auf der Welt mehr als genug junge und motivierte Menschen. Es gibt aber in Deutschland zu wenig globales Denken.
Auf der Normalstation geht es jetzt um Pflege und um Physiotherapie. Letztere kommt jeden Werktag für 20 Minuten. Das Ziel: Stehen und Gehen. Es gelingt immer besser, etwas Kraft aus den völlig ermatteten Beinen herauszuholen und diese so zu stärken. Die Polyneuropathie steckt aber noch so in den Knochen, dass eine Lageveränderung im Bett ohne fremde Hilfe nicht möglich ist. Zentimeter für Zentimeter gelingt es aber, die Füße mit eigener Kraft im Bett in Richtung linke oder rechte Bettkante zu bewegen. Aus der Sicht eines Gesunden ist es schier unglaublich, was ein Körper so alles mühelos bewerkstelligen kann, um einfach mal so aus dem Bett aufzustehen.
Der Rückweg
Der Rückweg ins Leben führt über Bewegung; daran arbeiten wir jetzt - Schritt für Schritt, Umdrehung um Umdrehung am Fahrradergometer, der ans Bett geschoben werden kann. Morgens die 'Physios', mittags und abends wir. So bekommen wir eineinhalb Stunden Bewegung pro Tag hin. Ohne Engagement der Familie ... unmöglich.
Die allgemeine Kreislaufschwäche, die sich wieder in Form von Kurzatmigkeit zeigt, torpediert gerade diesen Rückweg. Die Frage drängt sich auf, was ein geschundenes und repariertes Herz noch schaffen kann. Die Kontrolldichte auf der Normalstation ist um Klassen schlechter als auf Intensiv - hier war man mit Vitalwerten live versorgt und hatte zeitnahe bildgebende Verfahren (Röntgen, Ultraschall). Auf der Normalstation schafft eher die menschliche Beobachtung die Evidenz. Stärker werdende Kurzatmigkeit zeugt von stetig abnehmendem Lungenvolumen. Da hilft wohl auch kein noch so ausdauerndes Strampeln am Fahrradergometer. Kann der Rückweg ins Leben so tatsächlich funktionieren? Gibt es noch einen sinnvollen Behandlungsansatz gegen 'Herzschwäche'. Hier ist möglicherweise alles getan.
Unendlich
Was ist, wenn der Weg vom Überleben zum Leben unendlich lang und damit unüberwindbar wird? Ein 'natürlicher Tod' ist in Zeiten moderner Medizin meist eine Fiktion. Sind wir Zeuge eines natürlichen Sterbeprozesses, den wir nur durch massiven Einsatz von Medikamenten und bei Krankenhausbehandlung aufhalten können? An die Stelle des natürlichen Todes tritt der 'Tod durch Loslassen'. Wie groß ist die Chance, dass wir den Kreislauf so in Schwung bekommen, dass so etwas wie Leben in einem zu Hause denkbar wird? ... so dass massive Krankenbehandlung so selten wird wie eine halbjährliche professionelle Zahnreingung. Daran arbeiten wir. Ist das ein realistisches Ziel oder nur eine Illusion?
Es tut sich ein sehr grundsätzlicher Gedanke auf. Die moderne Medizin kommt irgendwann an ihre Grenzen. Die Möglichkeiten durch physische Eingriffe und biochemische Stimulation oder Suppression das System Körper soweit zu bringen, dass ein Leben für - sagen wir - acht Wochen am Stück, ohne lebensdrohliche Defekte tatsächlich gelebt werden kann, sind offensichtlich begrenzt. Ein Ausbessern der Kernelemente Herz, Lunge und Niere reicht dann nicht mehr. Ein Umbau mit Spenderorganen scheitert stets an Verfügbarkeit und zu geringer Restlebenserwartung angesichts der Risiken und Strapazen der OP.
Macht es Sinn, der Patientin, die ahnt, dass der Rückweg ins Leben nicht mehr möglich sein könnte, unter sinnvoller Abwägung der Chancen und Risiken begründete Hoffnung zu machen? Selbstverständlich ist es freundlich. Aber ist es auch vernünftig? Das Ergometer misst tatsächlich eine Leistungssteigerung - das stellen wir heraus, wir wollen ja positiv denken und reden. Aber die Lunge bringt nicht genug Sauerstoff in den Körper. Die Physiotherapeutin fand die motivierenden Worte: "Sie wollen doch bald wieder ihren Haushalt führen!", um der Patientin mit all der verbliebenen minimalen eigenen Kraft aus dem Bett zu helfen und 45 Sekunden bewegungslos im Stand am Gehgestell zu ermöglichen. Wie realistisch ist dieses Ziel? Macht es Sinn, sich an solchen Zielen abzuarbeiten, anstatt zu sagen: "Mein Ziel ist es, dass mein Kreislauf so funktioniert, dass mein Gehirn denken kann, ohne dass mein Körper alle x Tage in einen lebensbedrohlichen Zustand kommt?" und zu akzeptierien, dass dieses Ziel nicht erreichbar ist.
Wie keine Generation vorher haben wir die Möglichkeit, unser Leben selbst (mit) zu gestalten. Wir können das Leben mit geistiger Tiefe und unglaublichen Erfahrungen, räumlichen Erweiterungen und globaler Beziehungspflege sowie - dank mehr als 70 Jahren Frieden - einigem Wohlstand im wahrsten Sinne des Wortes anreichern. Wenn wir deshalb das Leben nicht als eine Strecke mit der Dimension Länge, sondern als eine Fläche mit den Dimensionen Länge und Tiefe betrachten, dann könnte es vielleicht Sinn machen, in kompletter Privatautonomie für sich selbst folgende Entscheidung zu treffen. Angesichts des schier unglaublichen 'Flächenzuwachses' an Lebensqualität in der gesunden Lebensphase verzichte ich bewusst auf die Reduziertheit des Lebens in der Phase lebensbedrohlicher Krankheit. Ja, dies beinhaltet eine Kosten-Nutzen-Abwägung, die mit guten Gründen bei der Entscheidung über fremdes Leben verboten ist. Aber ist dies nicht für das eigene Leben eine zumindest denkbare und vielleicht erstrebenswerte Option?
Wenn mich der Zahnarzt fragt, ob er den Zahn vor dem Bohren betäuben soll, stimme ich zu und tue mir die Tortur des Bohrens am Nerv nicht an - dies freilich mit der Gewissheit, danach wieder gut und fröhlich beißen zu können. Gibt es nicht objektive Bedingungen oder zumindest Wahrscheinlichkeitsverteilungen, unter denen wir sagen müssen: wir haben jetzt alles getan, was die Medizin hergibt. Ich - niemand anders - bewerte selbst, ob das Ergebnis befriedigend oder unbefriedigend ist, und komme zum negativen Ergebnis. In dieser Situation entscheide ich über das Ende meines Lebens und die Mühen und Schmerzen, die ich auf dem Weg bis dahin bereit bin zu ertragen.
Ich hab' gut reden ... oder gut denken
In diesem Blog geht es mir um die Frage, wie wir, die noch nicht ganz Alten, eine Haltung zum Tod finden und tatsächlich das Sterben lernen können. Meine Zwischenbilanz nach nun über 140 Tagen hautnaher Befassung mit dem Thema lautet: Ich würde einerseits jede Chance nutzen, mit Hilfe moderner Medizin mein Leben zu verlängern, um dieses unglaubliche Geschenk unbeschwerten und anregenden Denkens und Fühlens auch mit Einschränkungen weiter auskosten zu dürfen. Ich bin auch bereit, dafür einige Entbehrungen und Schmerzen hinzunehmen, zeitweise 'ausgeschaltet' zu sein, wenn an mir repariert wird. Ich nehme selbstverständlich große Mühe auf mich, um mich danach in das Leben zurück zu kämpfen. Zu der autonomen Entscheidung, mich der modernen Medizin anzuvertrauen - nennen wir es Einstiegsklausel - gehört aber auch eine Ausstiegsklausel. Die Austiegsklausel bedeutet, zu akzeptieren, dass die Möglichkeiten der Medizin, so etwas wie Leben wieder herzustellen, begrenzt sind. Es bedeutet, zu entscheiden, dass die Reise beendet ist und dieses Ende in einer guten Mischung von Kultur und Drogen zu feiern. Bei dieser Feier wäre im Kreise der Reisegesellschaft - bei einem Bier Bilanz - zu ziehen, damit die anderen, die weiter reisen, aus meinen Fehlern möglichst viel lernen können, um dann zu sagen, dass die Reise richtig klasse war. Früh am Morgen weit genug vor Sonnenaufgang geht es dann in den 'Flieger' auf einen Nachtflug. Im 'Flieger' übergeben wir unser Leben den jungen Flugkapitän*Innen. Ihnen übergebe ich das von mir geschriebene Drehbuch. Vielleicht starten wir bei Rotwein. Die Flugkapitän*Innen werden dafür sorgen, dass ich in Ruhe einschlafe und nicht wieder aufzuwache. Sie können dann später feiern, dass sie die Landung gut hinbekommen haben - wo wie es auf dem Ticket stand, das ich selbst in freiem Willen gelöst habe.
Ja, mit 56 hat man gut reden und denken. Ja, der beschriebene Gedanke ist ein Kulturbruch. Ich bin seit Jahren damit befasst, mein Leben zu 'designen' - auch indem ich dem Zufall zielgerichtet Raum gebe oder nehme. Warum sollte mir dies bei meinem Tod verwehrt sein, insbesondere dann, wenn der Zufall nach menschlichem Ermessen viel mehr Leid bei viel weniger Lebensqualität bereitet? Es kann sein, dass sich diese Gedanken als blanke Theorie entpuppen und am Ende jede Sekunde zählt, egal mit welchem Rest an Lebensqualität. Es erscheint mir heute aber irrational, mein Hirn im Durchdenkung aller möglicher Alternativen der Wege des Lebens und deren Beeinflussung zu schulen und dies hinsichtlich der Wege des Todes gerade nicht zu tun. Wie hälst Du - liebe Leser*In - es mit Deinem Sterben?
Die Wetterlage
Viele Fortschritte sind gemacht, die letztlich zum Verlassen der Intensivstation geführt haben. Die Infusionen sind durch Gabe von einer Unmenge an Tabletten kompensiert. Außer Sauerstoffgabe sind keine Geräte mehr notwendig. Endlich können weitere Leute zu Besuch ins Krankenzimmer kommen. Die Bewegungsfähigkeit kommt Schritt für Schritt zurück. Wie oben beschrieben, bleibt die Grunderkrankung der Herz- und Lungeninsuffizienz. Insgesamt bleibt die Lage kritisch, wenn auch weniger lebensbedrohlich.