Einschwingen auf der häuslichen Pflegestation
Fast auf die Stunde genau 14 Tage dauerte das Intermezzo der Pflege und Betreuung zu Hause. Das anfängliche Chaos an unterschiedlichen Einstellungen und Rhythmen hatte sich so langsam eingespielt. Wir mussten lernen, dass der Teppich von Zuständigkeiten im Geflecht von Haushaltshilfe, Pflegedienst, Physiotherapeut, Hausarzt und Sanitätshaus immer noch erhebliche Lücken auswies. So mussten wir Maria's Transfer zum Einkaufen sicherstellen, die Heizung im Haus, die sieben Monate nicht gelaufen war, wieder reparieren lassen und dem Müllproblem aufgrund der Unmenge an Windeln versuchen Herr zu werden. Wir lernten, dass der Stolz polnischer und russlandstämmiger Frauen (Haushaltshilfe und Mitarbeiterin des Pflegedienstes) einige interkulturelle Friktionen provozierte. War die Not in unserem Haushalt immer noch nicht groß genug, dass sich die Frauen mit Dankbarkeit dafür begegnen könnten, weil die eine die Arbeit ohne die andere kaum erledigen konnte? Maria - die Polin - jedenfalls ließ kein gutes Haar an der Arbeit der Pflegekraft - wohl ehemalige Russin - und begegnete ihr mit einer Eifersuchtsgeste, die ihr den Zugang zur Meisterklasse in der Schauspielschule in der Sparte Boulevard gesichert hätte. Drei Frauen (inklusive Patientin), die alle auf ihre Weise den Ton angaben, führten bisweilen zu einem ziemlich schräg klingenden Musikstück.
Dann war da noch die verdammte Technik. Uns war schnell klar geworden, dass der achtmal tägliche Transfer zwischen Rollstuhl und Bett drohte, sehr anstrengend zu werden. Maria hatte dies schon deutlich angemerkt. Wir beschlossen also am Samstag der ersten Pflegewoche, so schnell wie möglich einen Patientenlifter zu besorgen. Tatsächlich gelang uns dies auch innerhalb eines Arbeitstages - freilich unter Ungehung des normalen Verwaltungsablaufs sowie mit Selbstabholung und eigenem Aufbau des Geräts. Wir waren ganz glücklich, Maria am Montagabend in die Handhabung dieser wunderbaren Arbeitserleichterung einweisen zu können. Am nächsten Morgen meldete sich Maria gegen 7:30 Uhr per Telefon und erklärte aufgeregt, sie habe die Patientin mit dem Lifter angehoben, worauf der Lifter seinen Dienst versagt habe und sie die Patientin nun nicht wieder runterlassen könnte. Die Patientin hänge jedenfalls jetzt - quasi hoch in der Luft - im Tragetuch. Das klingt wie Pflegeslapstick, aber alles andere als spaßig, wenn man 15 km entfernt ist. Natürlich konnte niemand im Rahmen einer Ferndiagnose helfen, so dass Maria nichts anderes übrig blieb, als das Bett nun soweit wie irgend möglich hoch zu fahren und das Tragetuch auszuhängen, um die Patientin dann wieder ins Bett fallen zu lassen. Das Vertrauen in die Technik war erst einmal dahin, bis am Abend klar wurde, dass es keine gute Idee war, den Lifter gerade durch Festhalten am Notknopf zu bewegen. Gefühlt gab es keinen Tag ohne eine kleine oder mittlere Katastrophe - gedanklich waren wir immer auf dem Sprung.
Trotzdem hatte sich alles halbwegs gut eingeschwungen. In der zweiten Woche hatten wir gelernt, wie der Tag optimal ablaufen sollte. Es war ein Musikstück im 7/8-Takt (das kann sich ganz anhören wie bei Seven Days von Sting). Der Pflegerhythmus ging so Am Morgen: Rollstuhl, Bett, Rollstuhl; nach dem Mittagessen: Bett, Rollstuhl; nach dem Kaffetrinken: Bett, Rollstuhl, wobei die Bett- und die Rollstuhlphase jeweils 90 Minuten ausmachten. Google-Sheets erwies sich als gutes Planungs- und Darstellungstool, des täglichen Studenplans, in den wir dann Krankengymnast, Pflegedienst und Besuche jeweils zu den Rollstuhlphasen bzw. den geplanten Übergängen zum Bett einsortieren. Das gelang tatsächlich von Tag zu Tag besser, sodass die Ereignisse des Unnützen Erscheinens des Pflegedienstes - z.B. weil die Patientin fest schlief - deutlich weniger wurden.
Letzte Station
Am Ende der zweiten Woche zu Hause aber zeigt sich wieder die bekannte Kurzatmigkeit. Die letzte Episode am Sonntag ist ein ausgiebiger Besuch von Freundinnen mit Kaffee, Plaudern und Gesellschaftsspiel ... und dann die völlige Erschöpfung am späteren Nachmittag. Alles hat sich ganz gut eingespielt, doch zeigt sich am Montag, wie die Sauerstoffversorgung des Körpers nachgelassen hat. Das von einem Medizinversender für gut 30 Euro gelieferte SpO2-Messgerät zeigt einen Wert in der Region von 85%. Auf der Intensivstation hatte die Software bereits bei 95% einen Alarm ausgelöst. Dies und die Beobachtung der deutlichen Kurzatmigkeit gibt das Signal, für die Wiederaufnahme ins Krankenhaus. Die Betreuung zu Hause hat damit fast auf die Stunde genau 14 Tage gehalten.
Was nun mit Maria? Wir beschließen, Maria erst einmal zu halten. Eine Rückkehr nach Hause erscheint möglich und bei ihr wissen wir, 'was wir haben'. Die Diagnose im Krankenhaus: doppelseitige Lungenentzündung. Es folgt eine Behandlung auf der Intensivstation. Hier treffen wir just den älteren Pfleger der Uniklinik, der uns an Silvester schweren Herzens offenbart hatte, dass heute sein letzter Arbeitstag sei, um danach in eine andere Klinik mit mutmaßlich weniger schwierigen Patienten zu wechseln. Auch Kräfte von der Zeitarbeit sind 'alte Bekannte'. Ein großes 'Hallo' zwischen Sauerstoffanschluss und Antibiotikainfusion. Die Kreuzchen bei DNI und DNR sind leicht gemacht. Die Ärzte einigen sich zusätzlich auf eine Sichtweise des Falles, nach der eine Intubierung oder Reanimation ohnehin kein sinnvoller Behandlungsansatz (mehr) sei und sich deshalb die Frage nach Maximalbehandlung an die Patientin selbst oder an die Angehörigen hinsichtlich Notfallmaßnahmen gar nicht stelle. Die Behandlung auf der Intensivstation führt zu einigen psychischen Ausfällen in Form von schroffem Umgang mit Besuchern. Das legte sich zum Glück wieder.
Nach drei Tagen folgt die Verlegung auf die Normalstation. Die private Zusatzversicherung bringt einen schöneren Fußboden (Kunststoff mit Holzoptik), einen Flachbildschirm, zwei bequeme Sessel, Obstsalat zum Frühstück und einen Chefarzt, der äußerlich perfekt in jede RTL-Serie passen könnte (Casting-Typ: Peter Klöppel). Der Zustand der Atmung bessert sich aber nicht. Es zeigt sich, dass die Krankenhausbehandlung nicht nur eine kurze Episode sein wird. Nachdem sich der Umgang mit Besuchern wieder normalisiert hat, holen wir Maria mit ins Krankenhaus. Sie hat ihre eigene Theorie für die Verschlechterung des Zustands und die Krankenhausbehandlung. Es muss nach ihrer Lesart daran gelegen haben, dass der Pflegedienst zu oft geduscht hat und sie sich dort erkältet hat. Um die Patientin wieder aufzupäppeln, kocht sie eine Hühnerbrühe mit Ei, die sie ins Krankenhaus mitbringt. In den wenigen Tagen der Versorgung ist eine überraschend intensive Beziehung zwischen ihr und der Paptientin gewachsen. Es ist wohl eine anthropologische Konstante: Liebe den, der für dich sorgt. Dass dies auch in die andere Richtung funktioniert, machen wohl die Spiegelneuronen, die durch geleerte Suppenteller befeuert werden. Dankbarkeit kann man löffeln. Maria soll nun jeden Tag ins Krankenhaus kommen - jeweils vom Mittag- bis zum Abendessen. Die Trauer über die eingetretene Verschlechterung ist bei ihr um Klassen intensiver als bei uns.
Nach einer Woche kommt dann auch bei der Patientin der Gedanke auf, dass dies der letzte Weg sei. Die Patientin spricht von 'Schluss machen'. Der Chefarzt meint, man solle die 'Flinte noch nicht ins Korn' werfen. Wenn es an der Infektion liege, habe er noch Möglichkeiten. Die Lunge aber nimmt nicht etwa mehr Sauerstoff auf, sondern eher stetig weniger. Die Luftnot führt regelmäßig zu Panikattacken, die zunächst noch mit Hinweisen auf ruhiges 'Durchatmen' pariert werden können. An Tag 224 des Weges zum Tod erfolgt mit der Verabreichung der ersten Morphinspritze der Einstieg in die Palliativmedizin. Die noch geringe Dosis trübt das Bewusstsein zunächst nur leicht. Es bleibt noch Zeit, einmal den kleine Urenkel in die Klinik zu holen. Schnell aber muss die Dosis gesteigert werden. Müdigkeit, Phasen der Abweisenheit und Überforderung durch den Besuch - wohlgemerkt außer von Maria - sind die Folge.
Es reift der Plan, die Krankenhausbehandlung zu beenden und den Krankengymnasten durch ein ambulantes Palliativteam zu ersetzen. Wie realistisch das jetzt noch ist? Keine Ahnung. Das Herz, das unaufhörlich vom Schrittmacher mehr als einmal pro Sekunde zum Schlagen gereizt wird, folgt zwar noch diesem Aufruf, pumpt aber - so das Ergebnis der letzten Untersuchung - nur noch 20% des Herzvolumens in den Kreislauf, normal wären 70%. Bei diesem Wert kommen jüngere Menschen auf die Empfängerliste. Was hilft die Peitsche (Schrittmacher), wenn das Pferd (Herz) am Ende ist? Der Impuls des Schrittmachers trifft auf ein Herz, das dem kaum noch folgen kann. Kann man nagelneue Schrittmacher, die noch 15 Jahre zuverlässig arbeiten, ex- und reimplantieren? Sollte man ab einem bestimmten Alter den Schrittmacher eher mieten als kaufen? Wenn wir von 20000 Euro Kosten für den Schrittmacher samt Implantation mit einer Nutzungsdauer von bisher 200 Tagen ausgehen, dann hat jeder einzelne Impuls und damit Herzschlag ca. 1 Euro gekostet (20.000 EUR / (80 Schläge * 60 Minuten * 24 Stunden * 200 Tage)).
Zwei Tage später am Abend nach der Rückkehr vom Kurzbesuch beim Hochschulkonvent dann mein nächster Besuch. Weiße Finger, geringere Atemfrequenz, unklare Blicke, leichtes Stöhnen beim unregelmäßigen Ausatmen. Ein Morphiumpflaster gibt nun regelmäßig die Droge. Ich hoffe, dass die Medizin die Erfahrungen der Drogengebraucher, die wieder vom Trip 'runter gekommen sind, genutzt hat, um das Delir schön zu gestalten. Bilder aus ägyptischen Gräbern und Tempeln vom Hinübergleiten von einer Welt in die andere kommen in den Kopf. Ich müsste jetzt einige Menschen anrufen, lasse es aber. Die Floskeln würden sich wiederholen ... "für sie besser so", "eine Erlösung", "vor acht Monaten noch mitten im Leben" ... das gebe ich mir jetzt nicht. Ein Anruf bei ihrer langjährigsten Freundin muss reichen.
Am nächsten Morgen dann nach dem Frühstück wieder eine Besuch. Der Chefarzt kommt zur Visite und äußert die vage Hoffnung, man könnte sie aus diesem Loch noch einmal herausholen. Er erklärt mir das Stöhnen als Folge der Droge. Das Gespräch wirkt eher wie ein Abtasten, inwieweit wir den nahen Tod im Kalkül haben. Ich erkläre, dass der Tod seit nun 7 1/2 Monaten unser Thema sei.
Die letzte Infusion
Schon am Mittag von Tag 227 erfolgt dann der finale Beschluss: keine Medikamente mehr, nur noch Morphin über die Medikamentenpumpe. Die Ansage von uns - genauer von dem angehenden Mediziner unter uns. Die junge diensthabende Ärztin schaut sich nochmal die Situation an. Wir erklären, dass wir nicht so "drauf sind", wie diejenigen, die den Tod nicht akzeptieren können. 15 Minuten später wird die aufgezogene Spritze samt Pumpe installiert. 0,5 ml oder 0,5 mg pro Stunde ist die Dosis, die die Patientin in einen leichten, von wenigen Sekunden bis Minuten Wachphasen unterbrochenen leichten Schlaf versetzt. Die Spitze enthält 50 ml - das langt für 100 Stunden; so lange wird es wohl nicht mehr dauern.