Der letzte Weg ...
1,5 ml Mophin pro Stunde pumpt der Perfusor nun in den Körper. Wir haben gebeten, die Dosis von 0,5 über 1,0 weiter zu erhöhen, um den Kampf zu verkürzen. Dem wurde dann auch stattgegeben. Die Atmung wird immer wieder von Aussetzern unterbrochen. Nachdem die Augen gestern über lange Phasen geschlossen waren, sind sie heute stets geöffnet. Hin und wieder ein Räuspern, so als würde man zu einem Satz ansetzen, der dann aber nicht gesprochen wird. Es ist ein richtig warmes Wochenende und die Bauarbeiten im Umfeld haben zum Glück Pause. Salven von Bohrhammerschlägen der Baufirma, die die Intensivstation des Krankenhauses erweitert, passen nicht gut zu einem ruhigen Hinübergleiten in den Tod. Die Droge verschafft der Patientin halbwegs Ruhe. Wie mögen wohl die Menschen ohne Drogen gestorben sein?
Die Atemaussetzer sind beeindruckend, Sie dauern nun bis zu 15 Herzschlägen. Die Herzschläge sind ein verlässliches Zeitmaß und seit der Einstellung der Maximalfrequenz die einzig verlässliche Konstante im Auf und Ab der letzten Monate und im Auf und Ab des Brustkorbs. Die Narbe von der Herzoperation ist jetzt richtig gut verheilt. Saubere Arbeit. Vor gut einem halben Jahr hatten wir uns daran gewöhnt, in ein rotes Loch des noch nicht geschlossenen Brustkorbs zu schauen. Für die Stastik gilt die Intensivbehandlung mit der ECMO als Erfolg. Die Patientin hat mehr als 28 Tage überlebt. Wir sind nun an Tag 230. Das Warten auf den Tod hat etwas Entspannendes. Es gibt vorerst nichts zu organisieren. Den Bestatter rufe ich erst nach dem letzten Atemzug an. Es schiebt sich immer wieder das schlechte Gewissen angesichts der liegen gebliebenen Arbeit ein, doch der erfahrene Respekt meiner Umwelt vor der Sorge um die letzten Stunden des Lebens lässt mich das Verdrängen. Klasse wie Gehirne priorisieren können.
Da müsste Musik sein
... wenigstens bei mir. Wir haben nie über das Drehbuch der letzten Stunden gesprochen. Das Vogelgezwitscher mischt sich erfrischend in den faden Sound der nahen Autobahnbrücke, auf der Einige deutlich hörbar so richtig aufdrehen, als könnte man sich durch Geschwindigkeit längere Lebenszeit verschaffen. Wahrscheinlich ist es das Gehör und der Tastsinn, die noch funktionieren. Was kommt noch wo an in einem Gehirn, dem seit Jahrzehnten nie mehr als ein Glas Wein zugemutet wurde und das nun schon 60 mg Morphin verarbeitet hat? Ich würde in der Situation gerne das legendäre Konzert von Grateful Dead aus der achten Rockpalast-Nacht von 1981 hören. Keine andere Band hat sich so wenig um das üblich hektische 4-Minuten-Schema geschert und alle Songs bis zum 'geht nicht mehr' ausgewalzt. Die kraftlose und magische Stimme von Jerry Garcia, der eines Schreis nicht mächtig schien, passt gut zum leisen Atmen. Ich nehme mir vor, eine Playlist für meine letzten Tage zusammenzustellen.
Wir spielen mal vom Handy ein wenig Vivaldi, den Frühling ...
Sterben ist Rhythmus
8 flache Atemzüge und dann eine Pause von 16 Herzschlägen, die sich treibend am Hals des sonst weitgehend regungslosen Körpers abzeichnen. So ungefähr ist der Rhythmus des Sterbens. Es scheint wie ein Kind, das nicht einschlafen kann und hin und wieder erschrocken einen Sekundenschlaf - hier den Atemstillstand - ein wenig hochfährt, um wieder in einige aktive Atemzüge aufzuraffen.
Der liebe Gott hilft auch ungefragt
Eine Schwester läuft in unserer Whatsapps-Gruppe unter Eso-Schwester (Eso für Esoterik), weil sie auf gute Düfte wert legt - was ja schön ist. Sie glaubt, die gute Stimmung der Träume der Sterbenden vom Gesichtsausdruck ablesen zu können. In den Hinweisen zu Morphin (MSI) jedenfalls gibt der Hersteller als sehr häufige Nebenwirkung 'Stimmungsschwankungen' positiv wie negativ und als häufig 'Alpträume' an. Wie kann sich die Dame so sicher sein? 'Eso' fragt vor dem Ende der Spätschicht noch, ob noch eine Pfarrerin kommen soll. Ich weise darauf hin, dass es in den letzten 30 Jahren kaum Kontakt zur Kirche gab. Es fühlt sich für mich unfair an, die Kirche nur an den äußersten Lebensrändern in das Leben einzubeziehen. Die Schwerster erklärt selbstgewiss, der liebe Gott helfe auch ungefragt. Na dann ... prima.
Was soll das?
Die Stunden am Bett mit meiner linken Hand an ihrer linken und der rechte Hand zum Teil am Tablet vergehen angesichts der Leere und Ruhe erstaunlich schnell. Ich frage mich. welchen Sinn es macht, nun seit drei Tagen auf den letzten Atemzug zu warten. Wir brauchen diese Zeit für den Abschied ... nicht wirklich. Der eher plausible Grund erscheint mir die Ausbeutbarkeit einer Regel, die eine Herbeiführung des Todes mit sich brächte. Die Grenze, ab der eine Lebensverkürzung vermeintlich zu rechtfertigen sei, könnte sich aus vielerlei Gründen zu weit vom endgültigen Versagen der Körperfunktionen entfernen,zu viel vom Leben abgreifen. Ab irgendeinem Punkt könnten Erben und Krankenhausbetreiber übermächtige und sich verstärkende Eigeninteressen entwickeln. Wir sitzen also hier aufgrund einer kollektiven Rationalität, der des kategorischen Imperativ. Oder: Immanuel Kant lässt uns aus guten Gründen sitzen. Die Maxime unseres Ansinnens - gerade nicht zu warten bis der Körper unter finaler Erschöpfung das Gehirn nicht mehr versorgen kann - diese Maxime kann nicht zum allgemeinen Gesetz werden, weil die Interpretationspielräume in anderen Fällen nicht genug eingegrenzt werden können. Also lieber hier einige Tage länger unter Morphium anstatt an unbekannter anderer Stelle einen Tag eines lebenswertem Lebens zu gefährden. Geht in Ordnung.
Maria kommt noch jeden Tag ins Krankenhaus, obwohl sie außer Mundpflege kaum noch etwas tun kann und wir sie nun definitiv nicht mehr brauchen. Sollte es über das Wochenende hinaus länger dauern, kann sie vielleicht noch einige Stunden abdecken. Sie erzählt, Sie habe noch nie einen Menschen sterben sehen. Sie sei bei Ihrer Oma groß geworden. Ihr Mann sei früh gestorben, er habe mehr getrunken als gegessen. Sie sitzt nun sehr gefasst mit ihren Lehrbuch 'Deutsch für Pflegekräfte' im Sessel und merkt an, dies hier sei für sie eine gute Lektion. Ihr Vertrag endet mit dem Tod und einer Zahlung von 7 weiteren Tagen Lohn. Wir werden ihr anbieten, noch bis zur Beerdigung zu bleiben.
Ich zähle nun in den Pausen bis zu 19 Herzschläge ohne Atmung ... Ansprache kommt noch ein wenig an, es gibt aber keine Reaktion mehr. 21 Uhr: Abschied bis morgen ... bis morgen?
Ich gehe doch noch nicht. Die Atmung wird angestrengter und die Atempausen werden länger. Ich denke, es wird die letzte Nacht sein. Anstatt Musik aus der Konserve, beginne ich die Literatur der romantischen Rock- und Popliteratur auf den Zähnen zu pfeifen: Samba Pa Ti, Europa (beide Santana), Fragile (Sting), Hinterm Horizont (Lindenberg), Your Song (Elton John). Gegen 22:30 sind wir dann wieder zu viert am Bett. Wir lösen uns beim Hände halten ab. Wir handeln drei Boli - Bolus, so nennt man einen Extraschuss von 2 ml an Morphin [bolus (lat.) = Ball, Schuss] - und eine Steigerung der Grunddosis auf 1,8 ml pro Stunde heraus. Gegen 2 Uhr am Morgen wird dann alles deutlich beschwerlicher, geradezu animalisch und die Nachtschwester besorgt eine Infusion mit einem starken Schlafmittel. Dieses wirkt sehr beruhigend und stabilisiert - entgegen meiner Erwartung - die Atmung. Ein zweiter Perfusor gibt nun das Schlafmittel kontinuierlich ab. Es stellt sich eine flache, etwas ruckartige aber regelmäßige Atmung ein. Die Sterbende schläft erst einmal tief und fest. So schnell wie noch um Mitternacht gedacht wird wohl noch nicht gestorben. Um drei Uhr am Morgen sind wir noch zu zweit am Bett und alles scheint ruhig, halbwegs entspannt und regelmäßig. Wir schlafen dreimal 15 Minuten, jeweils bis die Lage im Stuhl oder Sessel zu unbequem wird. Ich habe schon sehr lange keine Nacht mehr 'durchgemacht'.
4:21 Uhr, der vermeintlich letzte Atemzug, dann mehr als eine Minute Stillstand. Die Nachtschwester kommt ins Zimmer. Ich denke, dass dies nun der stabile finale Zustand ist. Doch stellt sich wieder ein Zustand von einem Atemzug pro 15 Sekunden ein. Mehr Morphin und Schlafmittel. Noch ein festes Husten mit letzter Energie dann eine Minute ohne Atmung, noch ein festes Husten ... 4:42 Uhr, geschafft ... noch nicht 4:44 noch ein Aufbäumen, nochmal 4:47. Wir haben die Boli von je 2 ml Morphium nicht gezählt. Jede beindruckende Szene rechtfertigt einen Bolus - Prinzip: wir tun was. Es mögen seit Mitternacht 6 Boli gewesen sei. Das Stammhirn erzeugt immer wieder gequälte Atemzüge. 5:52 Uhr, wir sind immer noch Zeugen eines höchst unproduktiven Notprogramms von viel zu wenigen Atemzügen zu Leben, aber wohl zu viel zum Sterben. Die Nachtschwester erklärt, Sie dürfe die Atmung nicht stoppen. Der Weg, den sie gehe, zeige "ihre Stärke". Die Rechtslage respektiere ich natürlich, wenngleich ich mich frage, warum wir gerade jetzt auf den letzten Zentimentern bei 5 ml Morphin und 5 ml Schlafmittel pro Stunde als Grunddosis den natürlichen Tod 'huldigen'. Warum bekommen wir Sterben nicht so kultiviert hin wie Zähne ziehen? Das geht auch ohne Schreie und Kampf mit Urinstinkten. 'Im Kreise der Angehörige friedlich entschlafen', ich frage mich, ob es das wirklich gibt? Oder reden wir uns hier kollektiv den Tod schön? Der Schleim im Rachen hört sich an wie eine Spüle, dessen letztes Wasser ziemlich schnell abläuft. Die Sterbende bekommt von all dem sicher nichts mit; wir haben knapp 125 ml Morphin 'verschossen', das tröstet. 6:15 Uhr dann der letzte Atemzug. Nach zwei, drei Minuten ohne Reaktion ... puh ... Entspannung. Draußen scheint die Sonne. Gegen 7:45 - nach einem 'Abschieb' von einer würdig drapierten Toten - radle ich schluchzend über den Rhein. Auf den anderen Seite des Flusses keimt die Hoffnung, dass meine Enkel, sobald meine Zeit gekommen ist, so 'Gas geben' wie in den letzten Monaten ihre Väter.
Was bleibt?
Erstmal: regelmäßiges Laufen hilft ... auf der Langstrecke des Sterbens.
Ich bin überrascht, wie viele nahe und ferne Menschen den Blog verfolgen. Die Zeit des Schreibens war sehr hilfreich. Es hat, dem Warten Sinn gegeben, sparte viele Telefonate und provozierte viele überraschend wohltuende Reaktionen, für die wir dankbar sind. Ich hoffe, der Blog hat einige Leser dazu gebracht, den eigenen Tod in ihr Lebensprojekt einzubeziehen und denen, die ihn mit managen müssen, Instruktionen oder Leitlinien zu geben. 'Richtig' Sterben ist eine verdammt arbeitsteilige Veranstaltung. Zugegeben: ich selbst habe den Papierkram bestehend aus Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung noch nicht erledigt, aber ich nehme mir fest vor, dies vor der Sendepause des Blogs noch zu tun. Meine Textfassung werden ich den geneigten Lesern als Steinbruch für eigene Formulierungen hier zur Verfügung stellen.